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Fronleichnam - Theodor Kramer |
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14 Beiträge
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Hallo,
ich meine mich zu erinnern, dass über dieses Gedicht hier schon einmal diskutiert wurde, ich kann allerdings über die Suchfunktion nichts finden.
Ich hätte ein paar Fragen:
1. "...und die Reiser längs der Straße standen hier entlaubt"
Wieso sind die Reiser entlaubt? Normalerweise ist doch an den Zweigen bei einer Fronleichnamsprozession noch Grünes dran? Ein Zeichen für den Tod? Für den Tod des Bekennens des Christlichen Glaubens? Für den Tod, den das Nationalsozialistische Regime bringt?
2. "...und die Leut entblößten still das Haupt..."
Entbößen sie das Haupt aus Respekt vor Gott, so, wie wenn man den Hut ablegt, wenn man in eine Kirche geht?
3. "...doch dem baren Haar tat es wohl, daß selbst in diesen Tagen irgend etwas manchen heilig war..."
Wo und wie ist der Zusammenhang zwischen dem baren Haar und der Aussage, das manchen irgendetwas heilig ist? Warum das "doch"?
4. "...schwenkten auf den Masten die Standarten alle das verbogne Kreuz im Wind"
Standarten sind Fahnen. Ist auf den Fahnen das Hakenkreuz, das statt der üblichen Fronleichnamswimpel aufgehängt wurde bzw. einfach schon hing oder ist mit dem verbogenen Kreuz das christliche Kreuz gemeint, das aufgrund der Verleugnung des christlichen Glaubens oder des Verhaltens der Kirche gegenüber dem NS-Staat bildlich gesehen verbogen ist. Oder beides? Beide Interpretationen wären wohl denkbar, ist eine evtl. aus irgendeinem Grund auszuschließen? Ist eindeutig, was Theodor Kramer meinte?
5. Stimmt der Text von Dreyheit mit dem Originaltext überein?
Fronleichnam (Dreyheit)
Gespannt auf Antworten wartend:
Schneeweißchen
(Bitte keine Diskussion über das Verhalten der Kirchen im Dritten Reich, das bringt mich nicht weiter)
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"Wir haben die Spießer ängstlich gemacht, und wir lachen wenn man uns hetzt." |
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Beitrag vom 15.09.2009 - 22:16 |
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52 Beiträge
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Im angegebenen Link ist ein Zahlendreher. Korrekt lautet er:
http://www.folk.de/dreyheit/cd/text6.htm
In anderen Textwiedergaben sind die Reiser nicht "hier entlaubt", sondern "schier entlaubt", also beinahe oder fast wie entlaubt.
Der Titel des Gedichts lautet wohl vollständig:
Wien, Fronleichnam 1939
Von der vierten Stophe "schwenkten ... das verbogene Kreuz im Wind" gibt es zwei Textversionen.
Einmal werden auf den Masten die Standarten geschwenkt, ein andermal aus den Fenstern.
[Erwähnung in http://www.literaturepochen.at/exil/l5004.pdf, Seite 13].
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Beitrag vom 16.09.2009 - 01:17 |
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Moderator 976 Beiträge
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Ich denke Basti_KA kann dir hier sicher sehr gut helfen. Mal schaun wann er den Faden entdeckt.
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Gut Pfad!
steini
Sapere aude!, Wage zu Wissen! |
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Beitrag vom 16.09.2009 - 02:10 |
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Moderator 1559 Beiträge
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Also ich finde, dass Du das alles im wesentlichen richtig interpretierst.
Es war, ein Jahr nach dem Anschluss, tatsächlich tatsächlich etwas wie aus einer anderen Zeit, wenn eine Fronleichnamsprozession in Wien abgehalten wurde. Überall hängen Hakenkreuzfahnen (im Original aus dem Fenster) und die Reiser wirken gegen all verkitschten Nationalpomp vermutlich eher dürftig, wie auch die eher kleine Prozession ("wenige waren es") fast unterging. Dass aber trotzdem die Leute am Straßenrand das Haupt entblössten, stimmt den Dichter anscheinend hoffnungsvoll, weil eben nicht alles an heiligen Werten verloren scheint und nicht alle vollkommen von der nationalsozialistischen Idee vereinnahmt waren und nur noch dem Führer huldigten (daher denke ich mal das "doch").
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www.myspace.com/bruncken
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Beitrag vom 16.09.2009 - 10:05 |
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376 Beiträge
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seh ich auch so...
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Beitrag vom 23.09.2009 - 22:48 |
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Hola,
Zitat Original geschrieben von toi
Der Titel des Gedichts lautet wohl vollständig:
Wien, Fronleichnam 1939
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Jein.
Es gibt zwei Fassungen von Kramer, die beide am selben Tag entstanden sind (6. Oktober 1941). Die Titel sind "Fronleichnam" und "Wien, Fronleichnam 1939" (beide abgedruckt in der schönen Sammelausgabe von Zsolnay, und zwar Band 1 S. 375 und S. 300 respektive). Sie unterscheiden sich in wenigen Punkten, unter anderen tatsächlich in diesem:
Zitat
Von der vierten Stophe "schwenkten ... das verbogene Kreuz im Wind" gibt es zwei Textversionen.
Einmal werden auf den Masten die Standarten geschwenkt, ein andermal aus den Fenstern.
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Im Codex sprechen wir das an und geben die unseres Wissens fast ausschließlich gesungene Fassung "Fronleichnam" wieder. In beiden Versionen heißt es übrigens "schier". "Hier" ist falsch.
Das "verbogene Kreuz" ist eindeutig das Hakenkreuz. Kramer verwendet den Begriff, wenn ich mich recht erinnere, auch in anderen Gedichten. Finde auf die Schnelle kein Beispiel. Das Glossar in der o.g. Ausgabe gibt es im übrigen auch so an.
Ganz abgesehen davon, lieber Malte, glaube ich persönlich nach ausgiebiger Kramer-Lektüre wirklich nicht, daß ihn irgendetwas hoffnungsvoll stimmte. Warum auch? Aber vielleicht liegts an mir...
ciao,
m.
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Beitrag vom 03.11.2009 - 04:09 |
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ruski |
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Zitat Original geschrieben von Momo
Ganz abgesehen davon, lieber Malte, glaube ich persönlich nach ausgiebiger Kramer-Lektüre wirklich nicht, daß ihn irgendetwas hoffnungsvoll stimmte.
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Glaub es keinem schwangren Mädel,
dass nicht Unzucht ihr im Blut war,
glaub es keinem, dem der Schädel
brummt noch, das der Wein nicht gut war.
Glaub es keinem, dem der Magen
drückt, was alles nicht verzehrt war,
glaub es keinem, den´s geschlagen
dass das Leben es nicht wert war!
(Theodor Kramer)
Also das finde ich - angesichts seiner Biografie - doch recht hoffnungsvoll.
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Beitrag vom 03.11.2009 - 09:53 |
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173 Beiträge
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Zitat Original geschrieben von Momo
Ganz abgesehen davon, lieber Malte, glaube ich persönlich nach ausgiebiger Kramer-Lektüre wirklich nicht, daß ihn irgendetwas hoffnungsvoll stimmte. Warum auch? Aber vielleicht liegts an mir...
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Wenn du das nicht implizit auf das Politische beschränkst, dann kann ich dem nicht zustimmen. Allein die Liebesgedichte sind alles andere als hoffnungslos.
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Beitrag vom 03.11.2009 - 10:39 |
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Moderator 1559 Beiträge
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Zitat Original geschrieben von Momo
Ganz abgesehen davon, lieber Malte, glaube ich persönlich nach ausgiebiger Kramer-Lektüre wirklich nicht, daß ihn irgendetwas hoffnungsvoll stimmte. Warum auch? Aber vielleicht liegts an mir...
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Die letzten Postings dürften ja nun gezeigt haben, dass es auch hoffnungsvolle Zeilen aus Kramers Feder gibt. Was die Vertreibungslyrik angeht muss man unterscheiden: hinsichtlich der politischen Verhältnisse hatte Kramer sicher jede Hoffnung aufgegeben - nicht aber in zumindest einen Teil der Menschen, die unter diesen Verhältnissen lebten.
Hätte er auch da alle politisch über einen Kamm gezogen, dann hätte er die Standarten in der Zweitfassung sicher weiter aus den Fenstern hängen lassen und alle für schuldig erklärt und nicht auf die Masten am Straßenrand - also eine öffentliche und damit politische Fläche - verlegt.
Den Greisler, der den Schinken anschneidet, den hat er weiterhin gemocht und in die wenigen Prozessionsteilnehmer meiner Ansicht nach tatsächlich so etwas wie eine Hoffnung gelegt.
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www.myspace.com/bruncken
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Beitrag vom 03.11.2009 - 12:40 |
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Naja, ich empfinde das anders.
Ich sehe einen anderen Menschen hinter den Gedichten. Lebenshungrig, ja.
Aber jenseits des Ereignishorizonts, verloren fuer die Welt, mag er sie auch
beizeiten trotzig-verzweifelt heraufbeschwoeren. Fuer mich klingt das Hoffnungs-
volle bei ihm immer mehr gewuenscht als gespuert. "Stellt Euch vor wie es waere:
Hoffnung zu haben. So muss es sich anfuehlen!"
Schon 85 von 100 seiner ersten Zeilen transportieren das fuer mich. Und ich weiss,
was kommen wird, wenn er formaloptimistisch beginnt „Es gibt immer etwas, um
forwaertszusehen“. Das ruski'sche Beispiel ist für mich allenfalls verwegener
Trotz, vielleicht auch halbbitterer Zynismus, aber nie im Leben "hoffnungsvoll".
Aber so ist das eben mit dem Poetischen; jeder macht was andres draus ...
Warum erinnert mich das an Vegemite?
ciao
m.
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Beitrag vom 04.11.2009 - 02:11 |
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Moderator 1559 Beiträge
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Stellt sich die Frage, ob es Liebe ohne Hoffnung geben kann - seine Lyrik erklärt ihn nicht gerade zum modernen Vertreter der hohen Minne. Das mit dem Wurzeln aus der Erde dreh'n und der Vorhalt, dass andere Österreich nicht so sehr liebten wie er und auch die sonstige Vertreibungslyrik ist für mich zu kraftvoll, als dass da kein großes Empfinden dahinter stehen könnte. Ich glaube, der gute Mann hat seine Hoffnung erst endgültig nach der Rückkehr nach dem Krieg verloren - dann aber auch gründlich und lange hat er's ja dann nicht mehr gemacht.
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www.myspace.com/bruncken
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Beitrag vom 04.11.2009 - 17:49 |
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473 Beiträge
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Zitat Original geschrieben von Momo
Aber so ist das eben mit dem Poetischen; jeder macht was andres draus ...
Warum erinnert mich das an Vegemite?
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So schlimm ist Vegemite nun auch wieder nicht.
Und ob Kramers Glas nun halbvoll oder halbleer war - immerhin hatte er ein Glas.
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Esst mehr Nasenfisch! Singt schmutizge Lieder!
www.komolze.de www.der-codex.de |
Dieser Beitrag wurde 2 mal editiert, zuletzt von Pato am 08.11.2009 - 22:24.
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Beitrag vom 08.11.2009 - 17:00 |
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